Sieben Millionen zusätzlich für Orchester und Theater
22. Februar 2019Theater an 100 Orten: Unicef startet Live-Performance
7. März 2019Welttheatertag 2019
1961 wurde vom finnischen ITI und unterstützt von den anderen skandinavischen Zentren ein Welttheatertag vorgeschlagen. Der IX. ITI-Kongress in Wien (1961) nahm den Vorschlag einstimmig an und proklamierte den traditionellen alljährlichen Eröffnungstag des Festivals „Theater der Nationen“ in Paris, den 27. März, zum Welttheatertag.
Dieser Initiative war ein weiterwirkender Erfolg beschieden; in über 80 Ländern – also vielfach auch dort, wo noch kein ITI-Zentrum bestand – wurde der Welttheatertag schon im ersten Jahr mit Sonderveranstaltungen und öffentlichen Aktionen begangen. (aktuelle Information auf der Website des ITI-Generalsekretariats www.iti-worldwide.org). Bei der UNESCO in Paris wird der Welttheatertag seit vielen Jahren zusammen mit Vertreter*innen des ITI und den Verfasser*innen der Botschaft mit einer großen öffentlichen Veranstaltung begangen.
Die weltweit erste Botschaft verfasste Jean Cocteau, zu den Botschafter*innen der Folgejahre gehörten unter anderen Arthur Miller, Helene Weigel, Peter Brook, Dmitrij Schostakowitsch, Wole Soyinka, Václav Havel, Tankred Dorst, Ariane Mnouchkine, Víctor Rascón Banda, Robert Lepage, Augusto Boal, John Malkovich, Dario Fo, Brett Bailey, Krzysztof Warlikowski, Anatoli Wassiljew, Isabelle Huppert, Simon McBurney.
Botschaft zum Welttheatertag 2019
Carlos Celdrán
Bevor ich zum Theater kam, waren dort schon meine Lehrer. Sie hatten ihre Häuser und ihre poetischen Konzepte auf dem gebaut, was ihnen ihr eigenes Leben hinterlassen hatte. Viele von ihnen sind nicht bekannt oder man erinnert sich kaum an sie: Sie arbeiteten aus der Stille heraus, aus der Demut ihrer Probenräume und ihrer Theatersäle voller Zuschauer, und langsam, im Verlaufe arbeitsamer Jahre, in denen sie Außerordentliches leisteten, räumten sie ihren Platz und verschwanden. Als ich begriff, dass mein Handwerk und meine persönliche Bestimmung darin bestanden, ihren Schritten zu folgen, begriff ich auch, dass ich von ihnen jene einzigartige, herzzerreißende Tradition erbte, das Gegenwärtige zu durchleben, einzig und allein in der Erwartung, die Durchsichtigkeit eines nicht wiederholbaren Augenblicks zu erreichen. Ein Moment der Begegnung mit dem Anderen in der Dunkelheit eines Theaterraums, allein geschützt durch die Wahrheit einer Geste, eines vielsagenden Wortes.
Mein Theaterland besteht aus diesen Momenten der Begegnung mit den Zuschauern, die Abend für Abend in unser Theater kommen, aus den verschiedensten Winkeln meiner Stadt, um uns zu begleiten und ein paar Stunden, ein paar Minuten mit uns zu teilen. Aus diesen einzigartigen Minuten baue ich mein Leben, höre ich auf „ich“ zu sein und an mir selbst zu leiden, ich werde wiedergeboren und begreife, was Theatermachen bedeutet: Augenblicke reiner vergänglicher Wahrheit, von der wir wissen, dass das, was wir im Licht der Bühne sagen und tun, gewiss ist und unser Tiefstes, unser Persönlichstes widerspiegelt. Mein Theaterland, das meinige und das meiner Schauspieler, ist ein Land, gewebt aus jenen Momenten, in denen wir die Masken hinter uns lassen, die Rhetorik, die Furcht zu sein, was wir sind, und uns die Hände reichen in der Dunkelheit.
Die Tradition des Theaters ist horizontal. Niemand kann behaupten, dass es irgendeinen privilegierten Mittelpunkt in der Welt gibt, in irgendeiner Stadt, in irgendeinem Gebäude. Das Theater, wie ich es mir zuteilwurde, erstreckt sich auf unsichtbarem Gelände, welches das Leben der Theatermacher und das Theaterhandwerk in derselben vereinenden Geste miteinander vermischt. Alle Meister des Theaters wissen, dass es keine Anerkennung gibt, die Bestand hätte vor dieser Gewissheit, die die Wurzel unserer Arbeit ist: Momente der Wahrheit, der Zweideutigkeit, der Kraft, der Freiheit in größter Unsicherheit. Von den Meistern wird nichts überleben außer Daten und Verzeichnissen ihrer Arbeiten in Videos und Fotos, die nur eine blasse Idee von dem vermitteln, was sie schufen. Was solchen Katalogen stets fehlen wird, ist die stille Antwort des Publikums, das augenblicklich erkennt, dass das, was dort auf der Bühne geschieht, unübersetzbar ist und außerhalb des Theaters nicht auffindbar, dass die Wahrheit, die es hier teilt, eine Erfahrung des Lebens ist, für Sekunden durchscheinender als das Leben selbst.
Als ich begriff, dass das Theater seinem innerstem Wesen nach ein Land ist, ein großes Territorium, das die gesamte Welt umfasst, entstand in mir ein Entschluss, der zugleich auch eine Freiheit bedeutet: Du brauchst dich nicht von deinem Ort zu entfernen, musst nicht reisen. Dort wo du bist, ist auch das Publikum. Dort sind die Gefährten, die du an deiner Seite brauchst. Dort, vor deinem Haus, findest du die tägliche undurchsichtige, undurchdringliche Wirklichkeit. Von dieser scheinbaren Bewegungslosigkeit aus arbeitest du nun, um die größte aller Reisen zu konstruieren, die Wiederholung der Odyssee, der Argonautenfahrt: Du bist ein unbeweglicher Reisender, der unaufhörlich die Dichte und Festigkeit seiner wirklichen Welt beschleunigt. Deine Reise geht zum Augenblick, zum Moment, zur unwiederholbaren Begegnung mit deinesgleichen. Zu ihnen führt deine Reise, zu ihren Herzen, zu ihrer Subjektivität. Du reist durch ihr Innerstes, durch ihre Gefühle und Erinnerungen, die du erweckst und bewegst. Man kann deine schwindelerregende Reise weder ermessen noch verschweigen, es ist eine Reise durch die Fantasie deiner Leute, ein Samen, ausgesät in der entlegensten Gegend: dem politischen, ethischen, menschlichen Bewusstsein deiner Zuschauer. Deshalb bewege ich mich nicht und bleibe zu Hause, unter meinen Vertrauten, in scheinbarer Ruhe, und arbeite Tag und Nacht, weil ich das Geheimnis der Geschwindigkeit in mir trage.
Havanna (Kuba) im Januar 2019
Übersetzung aus dem Spanischen: Dieter Welke
Carlos Celdrán
wurde 1963 in Kuba geboren, wo er lebt und als Regisseur, Autor, Theaterpädagoge arbeitet.
1986 schloss er sein Theaterstudium ab und arbeitete zunächst als Berater, dann als Hausregisseur im Teatro Buendía in Havanna.
1996 gründete Celdrán die Gruppe Argos Teatro, deren künstlerischer Leiter er bis heute ist und mit der er dem kubanischen Publikum die Rezeption zeitgenössischen europäischen Theaters eröffnete. Argos Teatro ist eine der bekanntesten Theaterkompanien Kubas, ihre Produktion „Zehn Millionen“ (Stücktext von Celdrán) tourte international, ebenso wie die jüngste Produktion „Mysterien und kleine Stücke“ („Misterios y pequeñas piezas“, 2018)
Carlos Celdrán erhielt zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem 16-mal den kubanischen Kritikerpreis in der Kategorie „Beste Inszenierung“. Seit mehr als 20 Jahren lehrt er am Instituto Superior de Arte de Cuba, wo er die Meisterklasse Regie unterrichtet.